Buzzword oder Gamechanger? Was ist IIoT?
Unser aller Leben wird immer smarter. Während wir mit Alexa über das Wetter und die Termine des Tages diskutieren, spricht unser Smartphone eine Verkehrsempfehlung aus, damit wir den ersten Termin des Tages pünktlich mit dem Auto erreichen. Die Empfehlungen werden direkt an unsere Smartwatch gesendet, welche nicht nur Benachrichtigungen ausgibt, sondern nebenbei unsere Fitness- und Gesundheitsdaten trackt und mit unseren Sportzielen abgleicht.
All diese Dinge passieren innerhalb unseres Smart Home, welches wir vom Kühlschrank bis zur Beleuchtung und dem Garagentor problemlos fernsteuern. Das ist jedoch gar nicht notwendig, da unser Zuhause sich mittlerweile intelligent selbst steuert. Das Auto steuern wir aktuell noch selbst, doch auch dieser Job könnte uns schon bald durch Fortschritte im autonomen Fahren abgenommen werden.
Die genannten Entwicklungen im Bereich der Kommunikation und Vernetzung sind Teil des Internets der Dinge (Internet of Things; IoT). Im industriellen Kontext ist jedoch die Rede vom Industrial Internet of Things (IIoT). „Es repräsentiert im Gegensatz zum IoT nicht die verbraucherorientierten Konzepte, sondern konzentriert sich auf die Anwendung des Internets der Dinge im produzierenden und industriellen Umfeld.“ (Quelle: BigData Insider)
Im Kern geht es demnach um die Verknüpfung von Maschinen und Komponenten mit dem Internet, um Produktionsdaten übergreifend nutzbar zu machen. Dabei geht es nicht nur um interne, sondern auch um externe Verknüpfung, um Mehrwerte idealerweise über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg zu generieren. So erklärt es auch Digitalexperte Ricardo Wehrbein, den wir im LMZ Industry Talk zum Thema IIoT interviewen durften.
Ricardo Wehrbein von Aerzen Digital Systems
Um praxisrelevante Einblicke in die Welt des IIoT zu bekommen, haben wir den führenden Digitalexperten Ricardo Wehrbein zum Interview getroffen.
Ricardo beschäftigt sich als Geschäftsführer der Aerzen Digital Systems GmbH tagtäglich mit der Entwicklung digitaler Services auf Basis des Industrial Internet of Things. Sein Erfahrungsschatz reicht von Maschinenpark-Management, über Verfügbarkeitsoptimierung, bis zu Lösungen im Bereich der Energieeffizienz.
Der gelernte Mechatroniker, Wirtschaftsingenieur und MBA doziert neben seiner Managementrolle an der Hochschule Weserbergland in den Bereichen Mathematik und digitale Services. Ricardo hat uns im Rahmen des LMZ Industry Talk besucht. Das gesamte Gespräch zwischen ihm und LMZ-Geschäftsführer Dennis Lenkering können Sie sich HIER ansehen.
Status Quo: Digitaler Wandel in der Industrie?
Naturgemäß steht die deutsche Industrie für Fortschritt. Im internationalen Vergleich nimmt der Produktionsstandort Deutschland speziell im Maschinenbau und in der Automobilindustrie eine führende Rolle ein – auch wenn der Druck aus fernost immer größer wird. Beim Thema „Digitalisierung“ bewegen sich unsere Fabriken jedoch eher langsam und vorsichtig in Richtung Zukunft. Das betont auch Ricardo im Gespräch.
„Der Automatisierungsgrad am Produktionsstandort Deutschland ist vergleichsweise hoch. Komplizierter gestaltet sich die digitale Transformation in den Fabriken.“
Ricardo Wehrbein
Eine im Jahr 2022 durchgeführte Studie von IDC und InterSystems kommt zu einem ähnlich ernüchternden Ergebnis. Zwar beschäftigt sich laut Studie knapp die Hälfte der befragten Unternehmen mit dem Industrial Internet of Things, doch eine ausgereifte Umsetzung ist nur sehr vereinzelt zu erkennen. „Wenige Vorreiter, viele Nachzügler“ titelt das Fachmagazin „Industrieanzeiger“ in dem Kontext.
Die meisten Unternehmen befinden sich noch in der Recherche-, Evaluierungs- und Planungsphase. Die insgesamt verhaltene Vorgehensweise, die u.a. auf die undurchsichtige Gesamtsituation der deutschen Wirtschaft zurückzuführen ist, manifestiert sich in drei zentralen Hürden für die Unternehmen:
- Skepsis bzgl. Funktionalität, Stabilität und Sicherheit
- Fehlende Skills und Know-how in den Unternehmen
- Technologische Barrieren (v.a. Schnittstellen)
Im LMZ Industry Talk haben sich Ricardo Wehrbein und LMZ-Geschäftsführer Dennis Lenkering intensiv über das Industrial Internet of Things (IIoT) unterhalten. Dabei geht es nicht nur um den Status Quo, sondern auch um konkrete Lösungsansätze und Maßnahmen, um Produktionsdaten nutzbar zu machen. Anhand der eigenen Entwicklungsgeschichte von Aerzen Digital Systems gehen die beiden den Erfolgsfaktoren auf den Grund.
Mehrwert und Anwendungsfelder von IIoT
In wirtschaftlich angespannten Zeiten stehen Unternehmen mehr denn je vor der Herausforderung, digitale Lösungen nicht allein des Fortschritts wegen zu entwickeln, sondern konkrete, messbare Mehrwerte daraus zu generieren. Das erfordert zunächst eine betriebswirtschaftlich konzeptionelle Auseinandersetzung mit dem Thema, bevor es konkret um die technische Umsetzung geht. Einfach ausgedrückt: Wir sollten beim Kundennutzen starten, nicht bei der Technologie.
„Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Sie erfüllt ihren Zweck nur, wenn sie wirtschaftlichen Mehrwert bringt.“
Ricardo Wehrbein
Doch welche Mehrwerte verbergen sich hinter dem Industrial Internet of Things? Aufgrund der rasanten technologischen Entwicklung (u.a. durch maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz) breitet sich das Feld der Möglichkeiten sekündlich aus. Wir werfen einen Blick auf die wichtigsten digitalen Treiber der Industrieunternehmen:
1. Effizienzsteigerung & Kostenreduktion:
Eine unmittelbare Konsequenz der Implementierung von IIoT-Lösungen ist die Steigerung der Effizienz in industriellen Abläufen. Sensoren, die in Echtzeit Daten sammeln, ermöglichen eine präzise Überwachung und Analyse von Maschinenleistung und Produktionsprozessen (Condition Monitoring). Die meisten Daten entstehen ohnehin im laufenden Prozess. Nun gilt es diese Daten zu nutzen. Durch die Identifizierung von Engpässen, Optimierung von Ressourcennutzung (z.B. Energie) und Vorhersage von Wartungsbedarf können Unternehmen nicht nur ihre Effizienz steigern, sondern auch erhebliche Kostenersparnisse realisieren.
2. Predictive Maintenance:
Ein sehr gutes Beispiel für den Mehrwert von IIoT ist die Einführung von Predictive Maintenance. Durch die kontinuierliche Überwachung von Maschinenzuständen können Unternehmen Wartungsbedarf vorhersagen, bevor ein Ausfall auftritt, und frühzeitig entsprechende Maßnahmen in die Wege leiten. Dies minimiert nicht nur ungeplante Stillstandszeiten, sondern reduziert auch die Kosten für Ersatzteile und Wartung. Die Kostenvorteile gepaart mit einer ausgeprägten Lieferfähigkeit können in Zeiten von strapazierten Lieferketten zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil werden.
3. Qualitätsverbesserung:
Durch Überwachung und intelligente Steuerung von Produktionsprozessen in Echtzeit können Unternehmen nicht nur laufend die Prozessqualität verbessern, sondern auch fehlerhafte Produkte frühzeitig identifizieren und aussortieren. Dies führt zu einer Reduzierung von Ausschussware und einer Steigerung der Gesamtqualität der hergestellten Produkte.
4. Flexibilität & Anpassungsfähigkeit:
Echtzeitdaten sorgen für höchstes Tempo in der Fabrik. Dank IIoT können Unternehmen ihre Abläufe flexibler gestalten und sich schnell auf Marktveränderungen (z.B. konkrete Abruf- oder Absatzzahlen) einstellen. Die Fähigkeit, in Echtzeit auf Daten zu reagieren, ermöglicht eine agile Produktion, die den Anforderungen des dynamischen Geschäftsumfelds gerecht wird. Je besser die Umwandlung von Daten zu nutzbaren Informationen gelingt, desto sattelfester sind Unternehmen in ihren Entscheidungen. Das erhöht die Geschwindigkeit, in der weitreichende Entscheidungen getroffen werden können (proaktive statt reaktive Entscheidungen).
5. Entwicklung neuer Geschäftsmodelle:
Die Königsdisziplin im Kontext des Industrial Internet of Things ist die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle für das eigene Unternehmen. So ermöglicht IIoT neben dem Verkauf der eigenen Produkte auch die Vermarktung von datenbasierten Dienstleistungen/digitalen Services. Zum Beispiel können Hersteller von Maschinen nicht nur die Maschinen selbst verkaufen, sondern auch Serviceverträge für Predictive Maintenance und Leistungsanalyse anbieten, was zu einer kontinuierlichen Einnahmequelle führt.
Dem Thema „Datenbasierte Geschäftsmodelle“ haben wir eine eigene Folge des LMZ Industry Talk gewidmet. Im Gespräch mit Ricardos Kollegen Florian Breker, Business Consultant IIoT bei Aerzen Digital Systems spricht LMZ-Geschäftsführer Dennis Lenkering über die ideale Vorgehensweise, um aus einer digitalen Idee ein valides Geschäftsmodell zu formen.
Fazit
Insgesamt verändert IIoT nicht nur die betrieblichen Abläufe, sondern eröffnet auch neue Möglichkeiten zur Wertschöpfung. Diejenigen, die die Potenziale von IIoT vollständig nutzen, werden nicht nur effizienter arbeiten, sondern auch besser positioniert sein, um in einer zunehmend vernetzten und intelligenten Industrielandschaft erfolgreich zu sein.
Im Hinblick auf den Produktionsstandort Deutschland sollten wir tagtäglich am digitalen Fortschritt mitarbeiten, statt und von ihm abhängen zu lassen. Unser Interviewgast Ricardo ist sich sicher:
„Der Fortschritt wird stattfinden. Es ist wünschenswert, dass die entscheidenden Schritte aus der deutschen Industrie heraus getätigt werden, und nicht allein den Playern aus dem Silicon Valley vorbehalten sind.“
Ricardo Wehrbein
Weiterführende Links:
🔗 Das gesamte Gespräch mit Ricardo Wehrbein zu IIoT im YouTube-Video.
🔗 Wie sieht sie aus, die Fabrik der Zukunft? Antworten gibt es im LMZ Industry Talk.
🔗 Im Gespräch mit Florian Breker von Aerzen Digital Systems zu Datenbasierten Geschäftsmodellen.